Kritiken


"Weggenossen", Hörspiel von Klaus Nührig


Eine Hörspielkritik von Sybille Zülch im Evangelischen Pressedienst 1980

epd Im Bereich der Sozialarbeit, der Gefangenenbetreuung, der Arbeit mit Behinderten oder in psychiatrischen Krankenhäusern gibt es ein immer wiederkehrendes Problem zwischen sozial engagierten Betreuern und Betreuten: die Ausgegrenzten klammern sich, solange sie noch nicht völlig apathisch und resigniert sind, mit dem Wunsch nach ernstgemeinten Beziehungen an ihre Betreuer. Solange sich diese Beziehungshoffnungen innerhalb der Mauern solcher Anstalten entwickeln, können die institutionellen Bedingungen verantwortlich gemacht werden für die Schwierigkeit, eine beziehungsfeindliche Hierarchie zu durchbrechen Was aber, wenn ein Heiminsasse in Freiheit seinem früheren Betreuer begegnet und anknüpfend an die Heimerfahrung, das Beziehungsangebot mit aggressiver Hilflosigkeit einzuklagen versucht?

In Nührig Hörspiel treffen sich Rolf, Insasse eines Behindertenheims, und Karl, der während seines Zivildienstes dort gearbeitet hat und inzwischen studiert. Rolf will von Karl "normal" behandelt werden, will die Bestätigung, dass er kein Behinderter ist, will sich einnisten in Karls Familie, will Karls Freund sein und mit ihm in den Süden fahren. Karl hingegen steht deutlich unter der Spannung, Rolf "Lebenshilfe" geben zu wollen, ihm auch die Freundschaft zu gewähren und trotzdem zu spüren, dass die unterschiedliche soziale Lage für ihn eine Freundschaft unmöglich macht. Diese Unsicherheit treibt zu seinem und Rolfs Schaden, am Ende auf die Spitze, indem er sich, von Rolf unter Druck gesetzt, zu dem Versprechen hinreißen lässt, einen gemeinsamen Urlaub zu machen. ("Mir macht es auch Spaß, mit dir zu verreisen, wenn ich Zeit habe - wirklich".)

Es bleibt nach diesem Hörspiel kein Zweifel, dass Karl versuchen wird, sich unehrlich aus dem Versprechen davonzustehlen. Es wird auch deutlich, dass Karl, fern vom Schutz der Institution, Rolfs Ansprüchen nicht nur nicht gewachsen ist, sondern ihnen mit einer so großen Ambivalenz begegnet, dass seine uneingestandene Distanz für Rolf verletzender sein wird als die deutliche Verachtung von Karls Vater ("Der geistig Behinderte darf in meiner Wohnung nicht schlafen"). Karl, der Kriegsdienstverweigerer, widerspricht nur lahm der Begeisterung von Rolf über einen "geilen Kriegsfilm", den er sich widerwillig mitangesehen hat. Rolfs aggressive Mordphantasien ("Die Terroristen möchte ich alle mit dem Maschinengewehr abknallen") "überhört" er fast und zeigt mit dieser Art der Schonung, dass er Rolf als Gesprächspartner gar nicht ernst nehmen kann, dass er schwankt zwischen den Urteilen "hoffnungsloser Fall" und "ja nicht vor den "Kopf stoßen".

Es ist Klaus Nührig, der in seinem Ersthörspiel eigene Erfahrungen verarbeitet hat, gelungen, sich jeder Denunziation zu enthalten. Die reale Unmöglichkeit einer so ungleichen Beziehung wird weder Rolf noch Karl zur Last gelegt. Rolfs Aggressivität, seine exzessiven Saufereien und seine erpresserische Anspruchshaltung lassen Nührigs - keineswegs karitatives oder von schlechtem Gewissen getriebenes - Verständnis durchscheinen, ebenso wie Karls gespannte Hilflosigkeit plausibel, aber nicht entschuldigend wirkt. Und Gottfried von Einem hat den Text mit einer Behutsamkeit realisiert, die deutlich macht, mit welcher Eindringlichkeit und Sensibilität ein soziales Problem auch im Hörspiel dargestellt werden kann.

Sybille Zülch