Interview



Interview mit der „Federwelt. Zeitschrift für Autorinnen und Autoren.“ Nr. 45, April/Mai 2004


Der Braunschweiger Autor Klaus Nührig (45 Jahre) sorgte mit seinem im April 2002 erschienenen Kriminalroman „Auge“ für überregionales Aufsehen. Nührig, im Hauptberuf Lehrer an einem Gymnasium, schildert in seinem Buch Ereignisse, die an deutschen Schulen tagtäglich stattfinden: Mobbing, Ausgrenzung und Gewalt unter Schülern auf der einen, sich anbiedernde oder desinteressierte Lehrkräfte auf der anderen Seite. Das Echo auf das Buch war gewaltig. Klaus Nührig erhielt viel Lob für seinen Mut und seine Offenheit, musste aber auch viel Kritik einstecken. Federwelt sprach mit einem vormals unbekannten Autor, der plötzlich im Licht der Öffentlichkeit steht.

Federwelt: Bitte stellen Sie uns den Autor Klaus Nührig vor.

Nührig: Mein erstes ernstzunehmendes Projekt war ein Hörspiel mit dem Titel „Weggenossen“, das 1980 von Radio Bremen produziert wurde. Ich hatte gerade meinen Zivildienst mit geistig und körperlich behinderten Jugendlichen und Erwachsenen beendet. In den Hörspiel geht es um einen Zivildienstleistenden, der versucht, einen Behinderten, der sich mit ihm anfreunden will, auf Distanz zu halten, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen. Die Bedingungen dieser schwierigen Freundschaft haben mich interessiert, und es war ein sehr schönes Gefühl, wenn Berufsschauspieler im Hörspielstudio einem einundzwanzigjährigen Autor sagen, er habe lebendige Menschen erschaffen.
Weitere Veröffentlichungen waren unter anderem das 1986 vom WDR produzierte Hörspiel „Schwanensee 2000“, das von einem Jungen handelt, dem, immer wenn er seine Hand in das vergiftete Wasser eines Sees hält, die Möglichkeit gegeben wird, in seine Zukunft zu schauen. Mich hat es gereizt, den Prozess der Reifung eines Menschen umzudrehen. Der Junge spürt, dass es nicht gut ist, so zu werden, wie er einmal sein wird.
Daneben reizt mich die essayistische Schiene. Zwei Arbeiten über Lessing wurden in den Anthologien „Begegnungen“ (hg. von der Braunschweigischen Landschaft, Appelhans Verlag 2002) und „Dichter, Denker, Eigenbrötler“ (hg. von Klaus Seehafer, Leda Verlag 2003) gedruckt. 2001 erhielt ich das Stipendium Paul Maar durch das Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland für das mit Schülern gemeinsam verfasste Theaterstück „Ist hier noch frei?“ Zwei Jahre später wurde es in das Programm des Deutschen Theaterverlags übernommen.

Federwelt: Ihr bekanntestes Werk ist der Roman „Auge“, der 2002 im Leda Verlag erschienen ist und seitdem für viel Aufregung sorgte. Bitte schildern Sie kurz, worum es in dem Buch geht.

Nührig: Das Oberthema dieses Buches lautet: Wie gehe ich mit sexistischer Gewalt an Schulen um? Im Deutschunterricht eines Gymnasiums werden Szenen aus Goethes „Faust“ von Schülern in etwas umgeschrieben, was angeblich Jugendsprache sein soll. Die neue Fassung heißt „Faust brutal“, steckt voller sexistischer Gewalt und hat Schulklo-Niveau. Die Deutschlehrerin schlägt allerdings vor, „Faust brutal“ in der Schülerzeitung abzudrucken. Eine Schülerin versucht, sich gegen diesen Abdruck zu wehren, findet aber weder bei ihren Mitschülern noch bei ihren Lehrern Unterstützung. Im Gegenteil, sie wird angefeindet und unter Druck gesetzt. Der Roman beginnt mit dem tödlichen Autounfall dieser Schülerin, und der Kommissar, der ermittelt, begreift bald, dass auch sein Sohn in diese Geschichte verwickelt ist.

Federwelt: „Auge“ erschien im April 2002. Was passierte dann?

Nührig: Ich bekam viel Zustimmung für mein Vorhaben, Dinge so darzustellen, wie sie nun mal sind. Auch bei meinen Lesungen, die oft in Schulen stattfinden, gab es hauptsächlich positive Resonanzen. Natürlich habe ich auch auf Erfahrungen aus meinem Berufsleben zurückgegriffen, aber höchstens fünf Prozent des Buches basieren auf wahren Begebenheiten, und auch die wurden verfremdet. Der Rest ist fiktional. Trotzdem glaubten einige meiner Kollegen, sich in dem Werk wieder zu erkennen und beschwerten sich bei der Schulleitung und dem Personalrat. Fünf ehemalige Schülerinnen schrieben einen wütenden Leserbrief, den die Braunschweiger Zeitung veröffentlichte. Darin behaupteten sie, ihre Schule als Ort der Geborgenheit erlebt zu haben, als einen Ort des Vertrauens, der durch dieses Machwerk verunglimpft werde. Es war sehr seltsam, wie diese fünf ihre Erfahrungen auf einmal so ganz anders deuteten als zuvor. Mir ist von Lesern allerdings immer wieder bestätigt worden, dass der Plot überall spielen könnte und keinerlei Rückschlüsse auf meine Schule zulässt.

Federwelt: Wie sind Sie mit der Aufmerksamkeit umgegangen, die plötzlich über Sie hereinbrach?

Nührig: Nach dem Erscheinen des Romans habe ich bei meinen Lesungen vieles gehört, was mich berührt hat, zum Beispiel, wenn Menschen, die ich nicht kenne, mir sagen, die Geschichte meiner Hauptfigur Kerstin Schwan sei wie die Geschichte ihrer eigenen Tochter. Dass Leserinnen und Leser beim Lesen das Gefühl hatten, selbst Teil einer Geschichte zu sein, die gar nicht in der Stadt spielt, in der sie leben, hat mich bestärkt, dass es nicht falsch war, etwas zu riskieren und aus der Deckung zu gehen. Ein Buch wie „Auge“ möchte auch weh tun, und ich wollte denen eine öffentliche Sprache geben, die Ähnliches erleiden mussten wie Kerstin Schwan.

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Das Interview führte Marc Halupczok